DDR-Zeitzeuge an der HTS

35 Jahre nach seiner Haft wegen „Republikflucht“ diskutiert ein Stasi-Opfer mit Schülerinnen und Schülern der Abiturklasse des Beruflichen Gymnasiums  

Der Zeitzeuge Mike Mutterlose, Jahrgang 1968, wuchs in der DDR auf und hat in den späten 1980er Jahren als junger Mann elf Monate in Stasi-Gefängnissen zubringen müssen – unter erschwerten Bedingungen, die sich heutige Abiturienten gar nicht vorstellen können: In Isolationshaft in einer fensterlosen Zelle ohne Tageslicht, mit stundenlangen, erbarmungslosen Verhören, massiven Drohungen und Erpressungen, kurzum psychische Folter. Und warum? Weil er vielleicht jemanden umgebracht hat? Oder einen Raub oder ein sonstiges schweres Verbrechen begangen hätte?

Nein! Sein einziges „Vergehen“ bestand darin, vom Osten Deutschlands in den Westen zu wollen: Im Honecker-Staat aber war das „Republikflucht“ und damit ein schwerwiegender Straftatbestand, der mit jahrelanger Haft geahndet wurde. Dabei wollte der junge Mann lediglich die DDR mit ihrer Unfreiheit und Enge hinter sich lassen und in die Bundesrepublik gelangen, wo seine Großeltern wohnten. Er beantragte eine Besuchsreise in den Westen. Diese wurde ihm verwehrt, angeblich weil er seinen Wehrdienst bei der NVA noch nicht abgeleistet hatte. Da versuchte Mike Mutterlose im Sommer 1988 eine Flucht über die damalige Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich bei Bratislava. Doch er und zwei Freunde scheiterten im letzten Moment an einem mit 50.000 Volt gesicherten Grenzzaun. Er wurde inhaftiert, an die DDR überstellt und dort in einem Schauprozess zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt, von denen er elf Monate in diversen Stasi-Gefängnissen absitzen musste, bevor ihn die Bundesrepublik Deutschland 1989 wenige Monate vor dem Mauerfall freikaufte. Kurze Zeit darauf erfolgte seine vollständige strafrechtliche und berufliche Rehabilitierung.

Mike Mutterlose ist seit seinem Freikauf vor nunmehr über drei Jahrzehnten Mitglied in Häftlingsverbänden, Mitbegründer der „Initiative für Gerechtigkeit von SED-Opfern“ und Mitglied in der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. Vor allem aber besucht er als Zeitzeuge Schulen, um den Jugendlichen über seine Erlebnisse zu berichten, sich ihren Fragen zu stellen und mit ihnen zu diskutieren. Und das ist auch sehr wichtig, denn Zeitzeugengespräche mit Schülern sind ein unverzichtbares und unersetzliches Moment eines modernen, schülerorientierten und lebendigen Geschichtsunterrichtes, insbesondere wenn es um Zeitgeschichte geht und wir noch Menschen haben, die aus erster Hand berichten können, „wie es gewesen ist“. Dies berührt und packt Schülerinnen und Schüler viel mehr als Schulbuchtexte oder Lehrerweisheiten aus zweiter Hand dies vermögen. Und da dies so ist und wenige Wochen vorher die deutsche Teilung seit 1949, der Kalte Krieg, die Entspannungspolitik und die Wiedervereinigung im Geschichtsunterricht der Abiturklasse des Beruflichen Gymnasiums der Hochtaunusschule Oberursel durchgenommen wurden, lag es nahe, einen Zeitzeugen zur Geschichte der früheren DDR einzuladen. Und die Schülerinnen und Schüler der Klasse 13BG waren beeindruckt von dem Zeitzeugen, der als junger Mann die Endphase der DDR in einem Stasi-Gefängnis erleben musste.

Der Dank gilt, neben dem Zeitzeugen Herrn Mutterlose, auch der Deutschen Gesellschaft e. V. in Berlin, die sich unter dem Motto „Erinnerung ist Zukunft“ die Organisation von DDR-Zeitzeugengesprächen an Schulen zur Aufgabe gemacht hat und mit einem entsprechenden Angebot an die HTS herantrat. So fand am Vormittag des 19. Januar 2023 ein vierstündiges Seminar mit der Klasse 13BG statt, dessen erster Teil aus einem interaktiven Einführungsvortrag in die Geschichte der DDR und des Kalten Krieges bestand, den Herr Dr. Marius Kleinknecht von der Deutschen Gesellschaft e. V. hielt, und welcher der inhaltlichen Orientierung und Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler diente. Im zweiten Teil fand dann das eigentliche Zeitzeugengespräch mit Herrn Mike Mutterlose statt. Die rundum gelungene Veranstaltung traf auf eine sehr positive Resonanz bei allen Beteiligten, insbesondere auch den Schülerinnen und Schülern im Auditorium sowie auch dem Lehrerkollegium und der Schulleitung der Hochtaunusschule. Da verwundert es nicht, dass eine Fortsetzung im nächsten Jahr bereits beschlossene Sache ist und vereinbart wurde. Die Hochtaunusschule dankt dem Zeitzeugen Herrn Mutterlose sowie auch dem Organisator des Zeitzeugengespräches der Deutschen Gesellschaft e. V. sehr herzlich für ihr beispielhaftes Engagement. Beide haben einen Vormittag organisiert und realisiert, der den Jugendlichen noch lange in Erinnerung bleiben wird und manche auch zu vielfältigen Diskussionen und Reflexionen angeregt hat. Und auch nächstes Jahr wird wieder ein neuer Abiturjahrgang sich auf ein Zeitzeugengespräch freuen dürfen, das Zeitgeschichte aus erster Hand erfahrbar macht.